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Gesammelte Texte von Martin Kaluza zu Bread and Roses, How many times und Trotz alledem

Viele Text finden sich auch auf der Webseitevon Martin Kaluza: daspolitischelied.de.

Auf einem Baum ein Kuckuck
Text und Musik: unbekannt
Überliefert nach Ludwig Erk und Wilhelm Irmer (1838) 

»Auf einem Baum ein Kuckuck / Sim sa la dim bam ba sa la du sa la dim / Auf einem Baum ein Kuckuck saß.« Dieses Kinder- lied aus dem Bergischen Land kommt so leicht daher. Der kleine Kuckuck, von dem es handelt, sitzt einfach nur auf einem Baum. Zunächst. Denn dann kommt ein Jäger und schießt ihn tot. Begründung? Fehlanzeige. Der Kuckuck hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Er hat keine Gans gestohlen, er hat keinem Kind ein Auge ausgehackt, er saß einfach da. Ihm wird nicht einmal vorgeworfen, ein fremdes Ei aus dem Nest geschubst zu haben, was man ja hätte verstehen können. Der fröhliche Zungenbrecher »Sim sa la dim bam ba sa la du sa la dim«, der das Ende jeder Strophe noch ein bisschen hinauszögert, lässt ahnen, wie kalt der Jäger den Kuckuck erwischt hat. Wer das Lied geschrieben hat, ist nicht überliefert. Im 16. Jahrhundert gab es mit Ein Gutzgauch auf dem Zaune saß einen Vorläufer. Das Schlimmste, was dem Vogel in diesem Lied passiert, ist allerdings ein Regenguss, von dem er sich schnell wieder erholt. 1838 halten die Volkslied- sammler Ludwig Erk und Wilhelm Irmer erstmals eine Fassung von Auf einem Baum ein Kuckuck saß fest. Studenten singen das Lied gern auf Kneipenabenden als sogenanntes Vexir- oder Pfänderspiel: Wer sich bei dem flotten Zungenbrecher versingt oder die weggelassene Silbe in die Stille hinein grölt, muss eine »Bierstrafe« zahlen. In der ursprünglichen Fassung endet das Lied mit dem Tod des Kuckucks. Doch schon bald werden entscheidende Strophen drangestrickt: »Und als ein Jahr vergangen war / Da war der Kuckuck wieder da.« Jetzt ergibt auch die Formel »Sim sa la dim« Sinn — es ist offensichtlich Zauberei im Spiel. (Heute singt man »Sim sa la bim«.) Kinder sehen: Ach, war gar nicht so schlimm, der ist ja wieder da! Doch in der turbulenten Zeit des Vormärz und der Revolution der Bürger gegen den Adel 1848/49 singen immer mehr Erwachsene das Lied (auch im Karneval übrigens). Der Kuckuck aus dem Kinderlied wird zum Mutmacher, zum Symbol für den Widerstand. Das Signal an jede Art von Jäger lautet: Mit deinem Gewehr kannst du uns nicht beeindrucken. Nächstes Jahr sind wir wieder da. 

A Change is Gonna Come 
Sam Cooke

„I was born by the river in a little tent / Oh, and just like the river I’ve been a-runnin’ ever since.“ 1963 ist Sam Cooke einer der erfolgreichsten Sänger seiner Generation. Seine Hits „Cupid“, „Only Sixteen“ oder „What a Wonderful World“, vorgetragen mit butterweicher Stimme, erreichen Millionen Fans, schwarze wie weiße. Doch noch immer haben schwarze Amerikaner nicht die gleichen Rechte wie weiße – nicht einmal ein Star wie Sam Cooke darf in allen Hotels übernachten und in allen Restaurants essen. Während einer Tournee hört er Bob Dylans Song „Blowin’ in the Wind“ zum ersten Mal. Ein Schlüsselerlebnis: Cooke nimmt den Song, in dem der weiße, junge Folksänger gegen Diskriminierung singt, in sein Repertoire auf und spielt ihn regelmäßig. Und er traut sich nun selbst, einen politischen Song zu schreiben: darüber, wie schwierig, wie schmerzhaft und wie gefährlich es ist, als Schwarzer in den USA zu leben. Im Refrain singt Cooke von Hoffnung – und der traurige, kurz vor der Resignation stehende Ton lässt die Zuhörer ahnen, wie sehr sich Cook zu seinem Optimismus aufraffen muss: „Es geht schon lange so, aber die Zeiten werden sich ändern.“ Die Melodie für „A Change is Gonna Come“ sei ihm im Traum zugefallen, sagt Cooke einmal, Ende 1963 – nur ein paar Monate nach Martin Luther Kings „I Have a Dream“-Rede. Cooke nimmt seinen eigenen Song nicht ins Repertoir auf, er scheint ihm zu finster für fröhliche Club-Auftritte. Nur einmal spielt er ihn vor Publikum, nämlich am 7. Februar 1964 in der Johnny Carson Show.
Zwei Tage später treten die Beatles erstmals in der Ed Sullivan-Show auf – die Sensation überstrahlt Cookes Auftritt. Als Single erscheint der Song im Dezember, wenige Tage nach Sam Cookes Tod, er wurde in einem Motel von der Geschäftsführerin erschossen. Er erlebt nicht mehr, welche Bedeutung sein Song für die Bürgerrechtsbewegung erlangt. 
Otis Redding nimmt eine Fassung auf, ebenso Aretha Franklin. Als 2008 Barack Obama als erster schwarzer Präsident der USA vereidigt wird, trägt die Soulsängerin Bettye LaVette „A Change is Gonna Come“ im Duett mit Jon Bon Jovi vor. 

Ah! Ça ira 
Ladré / Bécourt 

Am 14. Juli 1790, dem ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, feiert Frankreich auf dem Marsfeld in Paris die Revolution. Immer wieder erklingt das Kampflied „Ah! Ça ira“. Der schwungvolle Marsch rechnet mit der Aristokratie ab – je nach Fassung mal mehr, mal weniger explizit blutrünstig. Das Lied, geschrieben von einem Straßensänger namens Ladré, erklingt schon seit Monaten in Gassen und Wirtshäusern, Aristokraten wird es auf der Straße nach- gesungen. Die Refrainzeile „Ça ira!“ haben sich die Revo- lutionäre bei Benjamin Franklin abgeschaut, der mit diesen Worten (er sagte sie auf Französisch) die amerikanische Unabhängigkeit meinte: „Das wird klappen!“ Der Song ist das „Yes, we can!“ oder das „Wir schaffen das!“ seiner Zeit. 1954 singt Edith Piaf den Song mit solcher Dringlichkeit, dass ihr sogar der flotte Rhythmus der Titelzeile noch zu langsam ist. 

Badisches Wiegenlied
Text: Ludwig Pfau (1849)
Musik: Unbekannt

»Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß! / Deinen Vater hat er umgebracht, / deine Mutter hat er arm ge- macht, / und wer nicht schläft in guter Ruh, / dem drückt der Preuß die Augen zu. / Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort drau- ßen geht der Preuß!« Welches Kind soll bei solchen Gedanken bitte schlafen? Immer wieder wurde der Text des Ba- dischen Wiegenliedes zur Melodie von Schlaf, Kindlein, schlaf gesungen, so wie auch das heute noch viel bekanntere »Maikäfer, flieg! / Der Vater ist im Krieg. / Die Mutter ist in Pommerland, / Pommerland ist abgebrannt.« Während beim Maikäferlied nicht abschließend geklärt ist, wann genau es entstand — ob eher im Dreißigjährigen Krieg oder vielleicht im Siebenjährigen — lässt sich das Badische Wiegenlied sicher zuordnen. Es ist ein Abgesang auf die gescheiterte Revolution von 1848/49. In Baden hatten, wie in vielen Regionen Deutschlands, die Bürger begonnen, sich gegen Adel und Fürstenherrschaft aufzulehnen. Eine badische Republik sollte entstehen, mit dem Volk als Souverän. Eine Strophe des Liedes erwähnt auch die Festung Rastatt, wo der badische Teil der Festungsgarnison gemeutert und sich der Bürgerwehr angeschlossen hatte. Die reaktionären Nachbarstaaten schlugen den Aufstand nieder, unter der Führung Preußens: »Der Preuß hat eine blutige Hand, / die streckt er übers badische Land.« Neben der Schlaflied-Melodie von 1605 ist für das Badische Wiegenlied auch eine eigene Melodie überliefert, die allerdings eine Zeit lang in Vergessenheit geraten war. In den 1960er-Jahren entdeckt die Folk-Bewegung den Text für sich. Die Metapher des Schlafens passt in die Zeit, diesmal gemünzt auf politischen Stillstand in der Adenauerzeit — die 1968er-Studentenrevolte braut sich bereits zusammen. Das Duo Ulli und Fredrik schreibt eine neue Melodie, ebenso wie Dieter Süverkrüp oder Matthias Kießling von der Band Wacholder. In der historischen Vertonung wechselt das Badische Wiegenlied für die letzte Strophe vom düsteren G-Moll aufs optimistische G-Dur. Ein Stimmungswechsel, denn das Lied wagt einen optimistischen Blick in die Zukunft! Der Preuße geht nun nicht mehr in Baden umher, sondern er liegt — und zwar da, wo er den Vater schon hingebracht hat: unter der Erde. »Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß! / Gott aber weiß, wie lang er geht, / bis dass die Freiheit aufersteht, / und wo dein Vater liegt, mein Schatz, / da hat noch mancher Preuße Platz!« Die allerletzte Zeile schließlich hat nun auch gar nichts mehr mit Einschlafen zu tun — sondern mit einem neuen Erwachen: »Schrei’s, mein Kindlein, schrei’s: / dort draußen liegt der Preuß!« 

Blowin’ in the Wind 
Bob Dylan 

Robert Zimmermann, ein Junge aus dem kargen Norden der USA, geht mit 21 Jahren nach New York und mischt in den Bars und Musikkneipen die Folk-Szene auf. Unter seinem Künstlernamen Bob Dylan spielt er die Songs seines Vorbilds Woody Guthie, schreibt auch erste eigene: Politische, engagierte Lieder, die häufig um das Schicksal einer bestimmten Person herum gestrickt sind – ganz in der Folk- Tradition, etwa “The Ballad of Donald White” oder “The Death of Emmett Till”. 
An einem der Abende in einer Folk-Kneipe schreibt er praktisch in einem Rutsch einen neuen Text zur Melodie eines traditionellen Gospels („No More Auction Block“), aber diesmal geht es nicht um eine einzelne Person oder Begebenheit, sondern er zoomt zurück und betrachtet das große Ganze. Und er stellt große Fragen: 
Wie oft müssen die Kanonenkugeln noch fliegen, bevor sie für immer abgeschafft sind? Wie lange halten Menschen es aus zu existieren, ohne frei zu sein? Wie oft kann ein Mensch einfach wegsehen? „Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind.“ Die Friedensbewegung singt den Song genauso wie die Bürgerrechtsbewegung. „Blowin’ in the Wind“ wird zu einem der bekanntesten Protestsongs aller Zeiten. 

Bread and Roses 
James Oppenheim / Caroline Kohlsaat 

„Die Arbeiterin braucht Brot, aber sie braucht auch Rosen!“ 1911 bringt die Frauenrechtlerin und Gewerkschaf- terin Rose Schneiderman in einer Streikrede auf den Punkt, woran es Textilarbeiterinnen in New York mangelte: Brot – das steht für gerechten Lohn, erträgliche Arbeitszeiten und Sicherheit am Arbeitsplatz. Und Rosen – damit ist ein menschenwürdiges Leben außerhalb der Betriebe gemeint. Solidarität in den Gewerkschaften müssen sich die meist frisch eingewanderten Arbeiterinnen, die zum Teil wenig Englisch sprechen und als Lohndrückerinnen abgestempelt werden, erst erkämpfen. 
1912 steht Schneidermans Zitat auf den Plakaten des Streiks von 20.000 Textilarbeiterinnen in Lawrence (Massachusetts), der als „Bread and Roses Strike“ in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingeht. James Oppenheim schreibt um den Slogan herum ein Gedicht, 1917 komponiert Caroline Kohlsaat die Musik. Manchmal wird Martha Coleman als Komponistin genannt – möglicherweise ist das dieselbe Person. Nach dem 2. Weltkrieg vertonen erst Mimi Fariña (Joan Baez’ Schwester) und später Folksänger John Denver den Song erneut. Das Lied steht für zwei politische Bewegungen: Es wird in der Frauen und in der internatio- nalen Gewerkschaftsbewegung gesungen. 

Bürgerlied 
Text: Adalbert Harnisch (1845) 
Musik: Geschrieben zur Melodie von Prinz Eugen, der edle Ritter

Die Zeiten sind bewegt. Nach der Niederlage Napoleons und der Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress ordnen sich die Kräfte in Europa erst langsam neu. Gleichzeitig nimmt die Industrialisierung Fahrt auf, große Teile der Arbeiterschaft leben in Armut, soziale Konflikte sind die Folge. In Preußen und anderswo gründen sich in dieser Zeit des Vormärz Bürgervereine, in denen man über die Dinge spricht, die alle angehen: Man diskutiert über Armut und Bildung, über das Gesellenwesen und man fordert ganz allgemein Mitsprache. Der Postsekretär Adalbert Harnisch schließt sich dem Bürgerverein im westpreußischen Elbing an. Er verfasst Gedichte und Lieder, die er später unter dem Namen Hans Albus veröffentlicht. Auf die Melodie von Prinz Eugen, der edle Ritter schreibt er ein Lied für den Bürgerverein in Elbing, das den Geist der Erneuerung atmet. In drei Schritten beschreibt er, worauf es in der jetzigen Situation ankommt. Zunächst einmal: Äußerlichkeiten und Standesunterschiede sind egal. »Ob wir rote, gelbe Kragen, / Hüte oder Helme tragen, / Stiefeln oder Schuh’. / Oder, ob wir Röcke nähen / Und zu Schuh’n die Fäden drehen: / Das tut nichts dazu.« 
Was zählt, ist, etwas Neues aufzubauen: »Aber, ob wir Neues bauen, / Oder’s Alte nur verdauen / Wie das Gras die Kuh. / Ob wir für die Welt was schaffen, / Oder nur die Welt begaffen: / Das tut was dazu.« Und schließlich, der dritte Schritt, ein Call to Action, wie man heute sagen würde, ein Aufruf, sich zu organisieren und tätig zu werden: »Drum ihr Bürger, drum ihr Brüder, / Alle eines Bundes Glieder, / Was auch jeder tu’. / Alle, die dies Lied gesungen / So die Alten wie die Jungen: / Tun wir denn dazu.« Harnisch trifft den Nerv der Zeit, das Lied verbreitet sich schnell. Es ist kaum veröffentlicht, da wird es schon in Pillau gesungen, von Anhängern des gerade verbotenen Königsberger Bürgervereins. Man singt es unter Oppositionellen in den Böttcherhöfen bei Königsberg, weshalb es eine Zeit lang auch als Königsberger Bürgerlied bekannt ist. Nach dem Scheitern der Revolution 1848/49 entdeckt die Arbeiterbewegung das Bürgerlied für sich. Die Botschaft ist so universell und motivierend, dass sie sich nahtlos auch in diesen Kampf einfügt. In der Zeit der Weltkriege in Vergessenheit geraten, entdeckt die westdeutsche Folk-Bewegung das Bürgerlied in den 1960er-Jahren wieder, Hannes Wader und die Band Zupfgeigenhansel nahmen es in ihr Repertoire auf. In der DDR spielen Gerd Kern und Jack Mitchell es mit einem neuen Text im Oktoberklub. 

Canto nocturno en las trincheras 
José Miguel Ripoll / Leopoldo Cardona 

1937 reist Ernst Busch nach Spanien, um im Bürgerkrieg für die Internationalen Brigaden zu singen, die auf der Seite der Republik gegen den von Franco angeführten Staatsstreich kämpfen. Er lernt das Lied „Canto nocturno en las trincheras“ von José Miguel Ripoll und Leopoldo Cardona kennen – übersetzt heißt das „Nächtlicher Gesang in den Schützengräben“. In den Schützengräben ist es nachts keineswegs ruhig. Wenn die Waffen schweigen, rufen Kämpfer beider Seiten ihren Gegnern lautstark Parolen zu. 
Beide Seiten haben ihre Lieder. Während die Faschisten gern über den Morgen, die Sonne und die Katholischen Könige singen, bevorzugen die Republikaner Volkslieder, die von Schlachten berichten. Im „nächtlichen Gesang“ geht es kämpferisch zu: „Brota sangre del obrero / para un futuro mejor“, „Es sprudelt das Blut des Arbeiters / für eine bessere Zukunft“. Ein Lied, dafür gemacht, die ermüdende Kampfmoral zu erneuern. 
Ernst Busch gibt in Spanien ein Liederbuch für die Internationalen Brigaden heraus. „Canto nocturno en la trincheras“ übersetzt er ins Deutsche. Sein Titel: „Hinein ins Gebrüll“. 

Danser encore 
Kaddour Hadadi

2.000 Menschen singen und tanzen auf der Straße des kleinen Örtchens Vans in der Ardèche. Eine Facebook-Gruppe hat dazu aufgerufen. Im Prinzip eine fröhliche Straßenszene – wäre es nicht der 20. März 2021. Frankreich befindet sich wegen des Corona-Virus im Lockdown, und auf der Straße hält sich kaum jemand an die vorgeschriebenen Abstände. Die ebenfalls vorgeschriebene Maske trägt kaum jemand. Der Bürgermeister ist alarmiert. Inmitten der Menschengruppe stehen die Musiker der Band „HK et les Saltimbanks“. Ihr Song „Danser Encore“ war der Anlass für die Versammlung: „Freunde kommt, wir wollen wieder tanzen gehen / Leben ist doch nur als Ganzes schön“. Aus den Zeilen spricht die tiefe Sehnsucht nach Livemusik nach Tanz, nach Begegnung und überhaupt nach kulturellen Veranstaltungen. Kurzum: Nach allem, was während der Corona-Pandemie nicht möglich ist. Der Songwriter Kaddour Hadadi kritisiert in dem Text den französischen Präsidenten Macron. Er beschreibt ihn als Herrscher, die Rhetorik erinnert an die Gelbwesten-Proteste. Die Idee verselbstständigt sich. Überall in Frankreich – und bald auch in anderen Ländern – versammeln sich im Früh- jahr 2021 Flashmobs, um gemeinsam das Lied zu singen und dazu zu tanzen. Das Lied wird auch von Gruppen aufgegriffen, die jegliche Corona-Maßnahmen generell ablehnen, etwa von Corona-Leugnern in Deutschland. Kaddour Hadadi, im nordfranzösischen Raboux als Sohn algerischer Einwanderer geboren, ist das nicht recht. 
„Die Leute kennen mich, ich bin politisch links. Das Lied ist über mich hinausgewachsen“, sagt er einer Reporterin des Deutschlandfunks. „Das Lied gehört allen, aber ganz klar nur unter drei Bedingungen: Erstens, es gehört dir, wenn du nicht rassistisch und ausländerfeindlich bist. Zweitens, es gehört dir, wenn du brüderlich, solidarisch und gewaltfrei bist. Und drittens, es darf nicht politisch instrumentalisiert werden.“ 

Eh Fi Amal 
Fairouz / Ziad Rahbani 

Die Sängerin Fairouz ist im Libanon eine Institution. Generationen wuchsen mit ihrer Musik auf, die vom Geist der Offenheit durchweht wird. Ein Star ist die stets geheimnis- voll unbewegt auftretende Diva in der ganzen arabischen Welt seit den späten 1950er Jahren. 
Während des libanesischen Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 dauert, bleibt sie bewusst neutral. Sie tritt nur im Ausland auf, wohnt jedoch weiter im Libanon. Ihre Musik versteht sie als ihr politisches Engagement – für den Frieden, für Verständigung und Hoffnung. 
Den Song „Eh Fi Amal“ („Doch, es gibt Hoffnung“) nimmt Fairouz 2010 auf. Er handelt von einer erzwungenen Trennung zweier Liebender und der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Im Nachbarland Syrien laufen Fairouz’ Songs zwar in Assads Staatsmedien. Doch oppositionelle Radiosender machen „Eh Fi Amal“ bald zum Slogan syrischer Pazifisten. 

Ein lidlIn von den richstetten (Lied der Raubritter) 
Text: unbekannt
Musik: Oswald von Wolkenstein (um 1440) 

Das Unglück wartet an einem Frühlingsmorgen. Ein Zug Ulmer Händler hat sich gerade im Vilstal auf den Weg gemacht. Die Händler sind auf der Rückreise von der Frankfurter Messe, der Hauptmann Georg Rennwart begleitet sie. Reisen sind im Mittelalter keine ungefährliche Sache, vor allem wenn man so wertvolle Ladung dabei hat. Rund 250 Kilometer müssen die Händler zurücklegen, das sind zehn Tage, wenn man mit Lasttieren und Packwagen unterwegs ist. Sie haben schon den größten Teil der Strecke hinter sich, als sie bei Süßen in einen Hinterhalt geraten. Die Räuber nehmen fünfzehn Gefangene, erbeuten vierzig Pferde und Waren im Wert von fünftausend Gulden. Von dem Überfall berichtet das Lidlin von den richstetten. In der ersten Strophe wird der noch kühle Frühlingsmorgen beschrieben, samt Vogelgesang. Geradezu spöttisch entwickelt sich die Geschichte, wie die zunächst ungläubigen Ulmer der Situation gewahr werden. Anführer des Überfalls sind die Ritter Heinrich Schilling und Sigfried von Zülnhard, damals bekannt als Städtefeinde und Wegelagerer. »Wer fliehen kund / zur selben Stund / von seinem Bund / der blieb gesund.« Historiker haben die Angaben mit der Stadtchronik von Ulm verglichen und können nun ziemlich genau bestimmen: Der Überfall fand im Jahr 1440 oder 1441 statt. Im Lied werden die Kaufleute als Bauern bezeichnet. Auch wenn sie aus Ulm kommen und gar keine Äcker bestellen — aus Sicht der Ritter sind Städter »eingemauerte Bauern«. Die Räuber im Lidlin stammen aus dem niederen Adel. Seit die Landesfürsten zunehmend professionelle Armeen aufstellen, geht es mit dem Adel abwärts, Ritter werden schlicht nicht mehr gebraucht. Nun versuchen sie, sich irgendwie über Wasser zu halten — oft zulasten der Bauern. Die Städte haben noch nicht die Macht, die Sicherheit der Wege zu gewährleisten und planen bereits, sich in Bünden zusammenzuschließen. Das Lidlin ist (anders als Geyers schwarzer Haufen) tatsächlich in der damaligen Zeit entstanden, unmittelbar nach dem Überfall. Es zählt zu den seltenen Beschreibungen aus der Zeit, die einen Blick in die Innenwelt des Raubrittertums erlauben. Den Begriff der Raubritter übrigens verwendet damals noch niemand. Er wird erst 300 Jahre später ge- bräuchlich, gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die letzte Stro- phe lässt ahnen, dass das Lidlin ein Trinklied war. Mit dem Geld der Ulmer lässt man es so richtig krachen: Das Liedlein ist nun angestimmt, in Neuhaus wird mit dem Ulmer Geld gespielt, da lebt man süß, das Leben ist kein Graus und groß ist der Krug! Die Überlieferung des Lidlins verdanken wir Rochus von Liliencron. Der 1820 in Plön geborene Musikhistoriker hat für Volkslieder Ähnliches geleistet wie die Brüder Grimm für Märchen. Unzählige Handschriften hat er aufgetan und ausgewertet und damit die deutsche Volksliederforschung begründet. Liliencron hat auch eine Antwort der Ulmer auf den Überfall gefunden. Ein suberlich litlin von den rütern ist eine gesungene Klage in 25 Strophen. 
Einige davon sind vermutlich — wie es bei Volksliedern oft vorkommt — später hinzugedichtet worden. Warum sollte man auch eine beliebte Geschichte nicht etwas ausschmücken und den Genuss der Darbietung verlängern? Die Paarung aus Lied und Gegenlied jedenfalls ist selten, zumal unter den ohnehin nur spärlichen Überlieferungen aus der Raubritterzeit. Die ursprüngliche Melodie des Lidlins ist nicht erhalten. Die Melodie, die auf dieser Aufnahme zu hören ist, stammt aus einem Lied des damals populären Sängers, Dichters und Diplomaten Oswald von Wolkenstein, der selbst Ritter war und 1445 starb. 

El Quinto Regimiento 
Traditional, in der Fassung von Rolando Alarcón 

Am 17. Juli 1936 putscht das Militär gegen die Zweite Spa- nische Republik, der Bürgerkrieg beginnt. Am Tag darauf gründet die kommunistische Partei einen paramilitärischen Verband, 150.000 Mann stark, um Madrid zu verteidigen. Seine Gründung und Führungspersonal werden umgehend in einem Song verewigt: „El Quinto Regimiento“ – „Das fünfte Regiment.“ Die Melodie ist zusammengesetzt aus zwei Volksliedern. Die Strophen stammen aus „El Vito“, der Refrain aus „Anda, jaleo“. Auf einer der bekanntesten Aufnahmen von „Anda, jaleo“ ist übrigens der Dichter Federico García Lorca zu hören, 1931 begleitete er die Sängerin La Argentinita am Klavier. 
Im September 1939, ein halbes Jahr nach Ende des Bürgerkriegs, legt der französische Frachter „Winnepeg“ mit 2200 spanischen Flüchtlingen an Bord in der chilenischen Hafenstadt Valparaiso an. Der Dichter und Konsul Pablo Neruda hatte die Fahrt des französischen Frachters in Paris orga- nisiert. 
Als der chilenische Liedermacher Rolando Alarcón dreißig Jahre später ein ganzes Album über den Spanischen Bürgerkrieg aufnimmt – darunter auch „El Quinto Regimiento“ – sind die Passagiere der „Winnipeg“ und die Lieder, die sie mitbrachten, längst in Südamerika heimisch geworden. 

Foggy Dew 
Charles O’Neill / Traditional 

Am Ostermontag 1916 besetzen irische Republikaner wichtige Gebäude in Dublin, um die Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien zu erzwingen. Der Aufstand scheitert, die Anführer werden hingerichtet. 
Als drei Jahre später erstmals das Irische Parlament (Dáil Éireann) in Dublin tagt, nimmt auch der junge Priester Charles O’Neill aus dem County Antrim an der Sitzung teil. Tief beeindruckt geht O’Neill nach Hause und schreibt ein Gedicht für die Männer, die im Kampf für die Freiheit ihr Leben verloren haben. Und er spricht die irischen Soldaten an, die zur Zeit des Osteraufstandes im Ersten Weltkrieg in fernen Ländern für das britische Empire kämpfen: Es sei besser, stattdessen unter irischem Himmel zu sterben. O’Neill veröffentlicht den Song zunächst unter Pseudonym. Die Melodie ist bekannt: Sie stammt von einer Liebes- ballade, dem irischen Volkslied „The Moorlough Shore“. 1922 erlangt die Republik Irland ihre Unabhängigkeit – allerdings um den Preis der Teilung: Nordirland bleibt Teil Großbritanniens. 

Give Peace a Chance
John Lennon 

1967, lange bevor der Ausdruck „Bedroom Production“ sich in der Musikwelt etabliert, nehmen John Lennon und Yoko Ono einen Song gewissermaßen im Bett auf. Während ihrer Flitterwochen laden der Sänger und die Konzeptkünstlerin zu „Sleep ins“, bei denen sie sich im Bett filmen und interviewen lassen. Als Lennon während einer solchen Veranstaltung im Queen Elizabeth Hotel in Montreal von einem Reporter nach dem Sinn dieser Aktionen gefragt wird, antwortet er: „Einfach dem Frieden eine Chance geben!“ Er wiederholt den Satz. Und dann noch einmal und immer öfter. Für das nächste Sleep in bestellt er ein Tonbandgerät und Mikrofone und lädt noch mehr Leute ein: den Dichter Allen Ginsberg etwa, den Psychiater und LSD-Aktivisten Timothy Leary, die Sängerin Petula Clark und den Gitarristen Tommy Smothers. Vor laufenden Kameras nimmt er einen Song auf, der so eingängig ist, dass jeder den Refrain sofort mitsingen kann: „All we are saying is give peace a chance!“ 

Hasta siempre, comandante 
Carlos Puebla 

Im April 1965 verlässt Ernesto „Ché“ Guevara Kuba, um im Kongo eine Revolution anzuzetteln. Am 3. Oktober verliest Fidel Castro, Revolutionär und kubanischer Staatschef, einen Abschiedsbrief seines ehemaligen Mitstreiters. Liedermacher Carlos Puebla hört die Rede Castros und kann die ganze Nacht nicht schlafen. In einem Rutsch komponiert er eine Hommage an den Guerrillero. Der Titel „Hasta siempre, comandante“ („Bis in die Ewigkeit, Kommandant!“) ist an- gelehnt an Guevaras Motto „Hasta la victoria, siempre!“ („Immer bis zum Sieg!“). 
Guevaras Revolutionsversuche im Kongo und später in Bolivien scheitern, 1967 wird er von bolivianischen Militärs ermordet. Nach seinem Tod wird Guevara zur Pop-Ikone verklärt, das Lied zur vielfach nachgespielten international bekannten Hymne. Wolf Biermann schreibt einen deutschen Text und singt „Comandante Ché Guevara“ 1976 auf dem Konzert in Köln, unmittelbar vor seiner Ausbürgerung. In Kuba ist der Song bis heute Teil der Revolutionsfolklore. 

Internationale
Eugène Pottier / Pierre Degeyter

Mitte Juni 1888 setzt sich Pierre Degeyter mit seinem Akkordeon hin, um einen Text zu vertonen. Ein Arbeiterlied soll es werden, und der Autor Eugène Pottier hatte ganz offensichtlich die Marseillaise im Kopf gehabt, als er den Text schrieb, denn die Versmaße gleichen sich auffällig. Bestellt ist ein Stück mit „lebendigem und mitreißendem Rhythmus“. Von einem Gewerkschafterchor wird es bei einer Versammlung der Zeitungsverkäufer in Lille am 23. Juli uraufgeführt. Die Erstauflage der Partitur erscheint in 6.000 heimlich gedruckten Exemplaren. Titel: „L’Internationale“. 1910 erklärt der Internationale Kongress von Kopenhagen es zum Lied aller Arbeiter, und 1919 erklärt Lenin die „Internationale“ zur Nationalhymne der Sowjetunion. 1928, vierzig Jahre nach seiner Entstehung, dirigiert Pierre Degeyter persönlich den Chor auf dem VI. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau, mit Tränen in den Augen. 

Marseillaise
Claude Rouget de Lisle

Im bayerischen Wald, in der Oberpfalz, liegt die Kleinstadt Cham. Jeden Tag ertönt auf dem dortigen Marktplatz um Punkt 12:05 Uhr zu Ehren des dort als Sohn eines Bierbrauers geborenen Johann Nikolaus Graf Luckner das Glockenspiel. Gespielt wird wird immer das gleiche Lied: Die Marseillaise.
Der Komponist und Dichter Claude Rouget de Lisle schrieb das Lied am 26. April 1792 in Straßburg. Die Zeiten sind bewegt, denn dies ist die Nacht der Kriegserklärung, mit der Frankreich in den Ersten Koalitionskrieg eintritt.
„Auf, Kinder des Vaterlandes / Der Tag des Ruhmes ist gekommen! / Gegen uns ist der Tyrannei / Blutiges Banner erhoben
Hört ihr auf den Feldern / Diese wilden Soldaten brüllen? / Sie kommen bis in eure Arme / Um euren Söhnen, euren Gefährtinnen die Kehlen durchzuschneiden.“
Die wilden Soldaten, von denen die Rede ist, sind Preußen, Österreicher und Deutsche aus verschiedenen Kleinstaaten, die ins Feld geschickt wurden, um die Monarchie gegen das revolutionäre Frankreich zu verteidigen.
Als das Lied in Straßburg verfasst wird, ist der oberpfälzische Graf Luckner dort Oberbefehlshaber und Gouverneur. Man hat ihm die Rheinarmee anvertraut, mit der er die Österreicher aus Belgien zurückdrängen soll. Im Jahr zuvor war er zum „Marshall von Frankreich“ ernannt worden – der höchste militärische Ehrentitel, den die Republik zu vergeben hat. Zunächst heißt das Lied noch „Chant de guerre pour l’armée du Rhin“, „Kriegslied für die Rheinarmee“.
Luckner fällt allerdings schnell in Ungnade. Keine zwei Jahre nachdem ihm zu Ehren das Lied geschrieben wurde, stirbt er auf der Guillotine. Das Revolutionstribunal sieht ihn als Royalisten an – ein Irrtum, den der Nationalkonvent nach bereits einem Jahr korrigiert, in dem er Luckner rehabilitiert.
Der gleiche Nationalkonvent erklärt die Marseillaise am 14. Juli 1795, am sechsten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, zur französischen Nationalhymne.

Die Moorsoldaten
Johann Esser, Wolfgang Langhoff / Rudi Goguel 

Am 27. August 1933 führen Gefangene im Konzentrationslager Börgermoor im Emsland eine regelrechte Revue auf. Die Häftlinge müssen Moore trockenlegen und Torf stechen, viele überleben die Strapazen nicht. Einer der Insassen, Schauspieler Wolfgang Langhoff, überzeugt die Offiziere, ein wenig Abwechslung zu erlauben. Langhoff ist Kommunist und Antifaschist, und hier führt er nun als Direktor durch die Show des „Zirkus Konzentrazani“: Clowns, ein Ballett der dicksten Häftlinge, und zum Abschluss erklingt erstmals ein Lied, das Johann Esser, Wolfgang Langhoff und Rudi Goguel frisch geschrieben haben: „Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor“. Von dort zieht es um die Welt: Häftlinge, die verlegt wurden, singen es in anderen Lagern. Ein Entlassener singt es in London Hanns Eisler vor, der eine Klavierfassung schreibt und sie mit in die USA nimmt. Ernst Busch und Paul Robeson singen es in Spanien, um den Kampf gegen Diktator Franco zu unterstützen, Robeson nimmt 1942 eine englische Fassung auf. Aus den „Moorsoldaten“ werden „The Peat-Bog Soldiers“, „Los Soldados del Pantano“ und „Le Chant des Marais“. Langhoff, der das Lied initiiert hatte, wird 1946 Intendant des Deutschen Theaters in Ost-Berlin. 

Strange Fruit 
Abel Meeropol 

Es muss der traurigste aller Jazzsongs überhaupt sein. Abel Meeropol, damals auch bekannt unter seinem Pseudonym Lewis Allen, hatte eine Hymne gegen Lynchjustiz in den Südstaaten geschrieben und bot ihn der Sängerin Billie Holiday an. Sie hätte ihn gern bei Columbia Records aufgenommen, doch dort wurde der Song abgelehnt. 1939 nimmt sie ihn schließlich beim Label Commodore auf, zusammen mit drei weiteren Songs, und der Produzent sagt später über die Aufnahmen, er glaube, das sei die erste wirklich moderne Blues-Session gewesen. Die Band, mit der sie den Song ein- spielt, begleitet sie in dieser Zeit auch bei Auftritten im New Yorker Jazzclub „Café Society“. Von dessen Bühne aus erobert der düstere Song die Welt. „Strange Fruit“ beschwört eine ländliche Südstaatenidylle, in der aber die grausamsten Verbrechen stattfinden. Zwischen 1889 und 1940 wurden in den USA 3833 Menschen gelyncht. 90 Prozent dieser Morde fanden in den Südstaaten statt, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner. Die seltsame Frucht, die dem Songs den Titel gibt, ist der Körper eines Schwarzen, der leblos an einem Baum hängt. 

Trotz alledem
Text: Robert Burns (1795), Ferdinand Freiligrath (1843 Und 1848) Hannes Wader (1977 Und 2006)
Musik: James Mcpherson (1795)

Juli 1977, auf der Freilichtbühne beim Volksfest der DKP-Tageszeitung Unsere Zeit tritt ein hagerer Liedermacher auf. Hannes Wader, Sohn eines Landarbeiters und einer Putzfrau, zupft die Gitarre wie ein amerikanischer Folksänger und singt dazu ein sozialistisches Kampflied nach dem anderen. Er ist gerade erst der DKP beigetreten, der Deutschen Kommunistischen Partei. Beim Song Trotz alledem singt das Publikum besonders begeistert mit. Der Titel ist ein Dokument der Enttäuschung: Weder die Proteste der 1968er noch die sozialdemokratische Regierung haben — so die Wahrnehmung damals — linken Idealen zur Umsetzung verholfen. Wader prangert auch Berufsverbote an, denn besonders Linke und Kommunisten werden in den 1970er-Jahren nach dem Radikalenerlass geprüft, bevor man sie Lehrer oder Professoren werden lässt. Das Establishment gibt sich so schnell nicht geschlagen. Wader trifft mit dem Song einen Nerv, vor allem beim Seitenhieb gegen die SPD jubelt das Publikum. Der Mitschnitt des Konzerts erscheint unter dem Titel Hannes Wader singt Arbeiterlieder. Viele seiner alten Fans kehren ihm zwar den Rücken, weil er der DKP beigetreten ist. Doch das Album wird zum Klassiker — die ZEIT nannte es einmal »Urmeter des sozialistischen Liedguts«. Einen Titel namens Trotz alledem hatte Wader zwei Jahre zuvor schon einmal auf Platte gepresst. Allerdings noch mit einem ganz anderen Text, der von Ferdinand Freiligrath stammte. Und auch das war nicht die erste Fassung des Liedes. Kaum ein Arbeitersong wurde so oft umgedichtet wie Trotz alledem. Nicht einmal die Melodie blieb immer die gleiche. Seine Geschichte begann 1795 in Schottland: A Man’s a Man for A’ That war der erste politische Song, den der Nationaldichter Robert Burns an seinen Verleger schickte. Bis dato hatte er vor allem Liebeslieder geschrieben. Nun forderte er die Unabhängigkeit Schottlands und machte sich für die Abschaffung der Sklaverei stark. Der schottische Komponist James McPherson schrieb die Melodie dazu. Freiligrath übersetzte das Lied 1843 ins Deutsche, voller Hoffnung auf ein demokratisches Deutschland, errichtet nach den Werten der französischen Revolution: »Ob Armut euer Los auch sei, / Hebt hoch die Stirn, trotz alledem! / Geht kühn den feigen Knecht vorbei, / Wagt’s, arm zu sein trotz alledem!« Gesungen wurde Trotz alledem nach einer neuen, von Heinrich Jäde komponierten Melodie, später sogar zum Trinklied Als Noah aus dem Kasten war. Im Sommer 1848 war das Feuer des Aufbruchs erstickt, die Revolution gescheitert. Freiligrath goss seine Enttäuschung noch im Juni in einen neuen Text: »Das war ’ne heiße Märzenzeit, / Trotz Regen, Schnee und alledem! / Nun aber, da es Blüten schneit, / nun ist es kalt, trotz alledem! / Trotz alledem und alledem, / trotz Wien, Berlin und alledem, / ein schnöder scharfer Winterwind / durchfröstelt uns trotz alledem!« Hannes Wader katapultiert den Song vor allem durch die Aufnahme von 1977 in jedes politische Lagerfeuerrepertoire. Auch andere Autoren dichten das Lied um: gegen Atomkraft; gegen die Unterdrückung in der DDR; gegen die Ab- kehr der FDP von der sozialliberalen Koalition; gegen Technisie- rung und Überwachung. Ein rechtsradikaler Liedermacher versucht, den Song an sich zu ziehen, so wie die extreme Rechte immer wieder versucht, sich Codes und Rhetorik linker Popkultur anzueignen. Und Hannes Wader? Auch ihn lässt der Song nicht los. 2006 textet er ihn erneut um. Sprachlich ist das neueste Trotz alledem nicht mehr so klar und elegant wie Freiligraths Märzenzeit-Lied und Waders 1977er-Fassung. Vielleicht, weil es für ein Kampflied ungewöhnlich dialektisch ist: Wader kritisiert den Kapitalismus, lehnt aber den Sozialismus in der Form ab, wie er real existiert hatte. Aus der DKP war Wader schon 1991 wieder ausgetreten. 

We Shall Overcome 
Traditional 

Anfang des 20. Jahrhunderts singen amerikanische Bergarbeiter während eines Streiks „We Will Overcome“. 1945 singen ihn Tabakarbeiterinnen in South Carolina, ebenfalls als Streiklied. Seit 1959 schließlich steht „We Shall Overcome“ vor allem für die amerikanische Bürgerrechtsbewe- gung, die, angeführt von Martin Luther King, friedlich für die Aufhebung der gesetzlich festgeschriebenen „Rassen- trennung“ kämpft. Pete Seeger und Joan Baez machen den Song in der Popmusik bekannt. Aber wer hat das Lied geschrieben? Meist wird die Hymne „I‘ll Overcome Someday“ des Methodistenpredigers und Gospelkomponisten Charles Albert Tindley als Vorbild genannt. 2012 legte Musikproduzent Isaias Gamboa nahe, der Protestsong gehe auf die Hymne „If My Jesus Wills“ von Louise Shropshire zurück, die später mit Martin Luther King befreundet war. Sicher ist: Einer der bekanntesten Protestsongs überhaupt hat seinen Ursprung im Gospel – und er hat sich, bevor die ganze Welt ihn kennen lernte, mehrfach gewandelt. 

Where Have All the Flowers Gone? / Sag mir wo die Blumen sind
Pete Seeger 

Um 1950 herum stolpert der US-amerikanische Folksänger Pete Seeger in Michail Scholochows Roman „Der stille Don“ über eine ukrainisches Volkslied. Die Handlung des Romans spielt in der Zeit der Oktoberrevolution. In einer Passage reiten Donkosaken fort, um sich der Armee des Zaren an- zuschließen. Sie singen: „Wo sind die Blumen? Mädchen haben sie gepflückt. Wo sind die Mädchen? Sie alle haben geheiratet. Wo sind die Männer? Sie sind alle in der Armee. Galopp, Galopp, Galopp!“ 
Seeger schreibt die Zeilen in sein Notizbuch. Fünf Jahre später trifft ihn beim Dösen im Flugzeug die Inspiration: Die Worte „long time passing“ würden sich doch gut singen lassen – im Deutschen werden sie als „Wo sind sie geblieben?“ übersetzt. Aus den alten Notizen und der neuen Eingebung macht er einfach einen neuen Song, ergänzt um die pädagogische Zeile: „When will they ever learn?“ Seeger veröffentlicht das Stück 1955 im Magazin „Sing out!“ „Ich dachte, ich hätte die Melodie selbst geschrieben,“ erinnert er sich einmal. „Bis mir ein Jahr später ein Freund schrieb und mich darauf aufmerksam machte, dass sie sehr der Melodie eines Holzfällersongs aus Adirondacks ähnelte, den ich einmal aufgenommen hatte.“ Ein irisches Lied: „Johnson says he’ll unload more hay / Says he’ll unload ten times a day“. 1960 schließlich schreibt Seegers Freund und Folksänger Joe Hickerson noch zwei weitere Strophen, und erst mit ihnen schließt sich der Kreis des Textes: „Sag, wo die Soldaten sind / über Gräbern weht der Wind“ und „Sag mir, wo die Gräber sind / Blumen wehen im Sommerwind“. „Where Have All the Flowers Gone“ erscheint mitten im kalten Krieg, auf dem ersten Höhepunkt des atomaren Wettrüstens. Radio und Fernsehen tragen wenig zu seiner Verbreitung bei. Noch bis weit in die 1970er Jahre wird Pete Seeger vom US-Rundfunk boykottiert. Die Ausnahme bleibt ein Fernsehauftritt 1967 in der Comedy-Show der Smothers-Brüder (einer von ihnen ist später auf der Originalaufnahme von „Give Peace a Chance“ zu hören). Seegers nutzt die Gelegenheit, einen Song gegen den Vietnam-Krieg vorzutragen – was ihm nur weitere Jahre der TV-Verbannung einbringt. Der Siegeszug des Blumen- Liedes ist trotzdem nicht zu stoppen. Joan Baez nimmt eine Version auf. Die von Peter, Paul & Mary wird ebenfalls zum Hit. „Das Kingston-Trio sang das [Lied] auch, und Marlene Dietrich übernahm es von denen“, sagte Seeger in einem Interview mit dem Neuen Deutschland. „Max Colpet machte eine deutschsprachige Version, die sich besser singen lässt als meine englische. Es klingt im Deutschen wirklich noch beeindruckender: ‚Sag mir wo die Blumen sind.’“ 

Wir sind des Geyers schwarzer Haufen
Text: Hans Godwin Grimm, Kurt Zacharias u. a. nach einem Text von Heinrich von Reder aus dem Jahr 1885 (Der Arme Kunrad) neu gedichtet
Musik: Fritz Sotke (1919)

Welche Lieder über den Bauernkrieg kennen wir? Keine Frage: Die meisten von uns werden direkt an Wir sind des Geyers schwarzer Haufen denken. Kein anderes Bauernkriegslied ist so bekannt wie dieses: »Wir sind des Geyers schwarzer Haufen, heia hoho, / und wollen mit Tyrannen raufen, heia hoho, / Spieß voran, drauf und dran, / setzt auf’s Klosterdach den roten Hahn!« Der »rote Hahn«, klar, ist eine Metapher für züngelnde Flammen. Dreizehn Strophen hat das ziemlich brutale Lied. Man klagt dem Herrn, dass man Pfaffen nicht totschlagen darf, schickt die Kinder des Edelmanns in die Hölle, vergewaltigt seine Tochter, aber fordert eben auch ein gleiches Gesetz, »vom Fürsten bis zum Bauersmann«. Eine Zeile ist, ganz konkret, der Weinsberger Bluttat gewidmet, als Bauern vor den Toren der Stadt den Grafen Ludwig von Helfenstein und seine Begleiter töteten — am Ostermontag 1525. Ihr Anführer Florian Geyer entstammt einer reichen Familie aus dem unterfränkischen Giebelstadt. Der kriegserfahrene Adlige hat die Mittel, eine eigene Streitmacht aufzustellen und auszubilden. Sie ist von Weitem an ihrer schwarzen Kleidung zu erkennen. Warum er die Seiten wechselte und sich den Bauern anschloss? Die Historiker sind sich nicht sicher. Es ist aber gut möglich, dass er es aus Überzeugung tat. Allerdings, allerdings: Wir sind des Geyers schwarzer Haufen ist kein Lied aus der Zeit des Bauernkriegs. Geschrieben wurde es erst 1919, nach dem 1. Weltkrieg. Da ist der Held, den es beschreibt, schon fast 400 Jahre tot — und längst mythisch überhöht. Das Lied entstand im Umfeld der Bündischen Jugend, der überwiegend völkisch-national eingestellten Jugendbewegung, die aus Pfadfindern und der Wandervogelbewegung hervorgegangen war. 
Die Musik stammt von Fritz Sotke, der später auch Lieder für die Hitlerjugend schrieb, der NSDAP und der SS beitrat. Der Text ist aus mehreren Quellen zusammengetragen. Der größte Teil ist aus dem Gedicht Der arme Kunrad abgeleitet, das Heinrich von Reder 1885 veröffentlichte. Eine Strophe trug Hans Godwin Grimm bei, eine andere Kurt Zacharias, ein paar Zeilen sind grob aus Geyers Zeit überliefert: Die Zeilen »Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« stammen aus dem englischen Bauernaufstand von 1381 und tauchen noch in anderen Liedern auf. Und die Passage »Wir wollen’s Gott im Himmel klagen, dass wir die Pfaffen nicht dürfen totschlagen« wird Hans Böhm zugeschrieben, einem bis dahin eigentlich unbekannten Viehhirten, der 1476 die Menschen zur Wallfahrt nach Niklashausen aufrief, ihnen Ablass von ihren Sünden versprach und die soziale Gleichheit der Menschen verkündete. Es sind zwar durchaus Lieder direkt aus der Zeit des Bauernkriegs überliefert. Allerdings haben nur die Texte überlebt. Zu welchen Melodien sie gesungen wurden, weiß niemand. Und vor allem: Viele dieser Lieder richteten sich gegen die aufständischen Bauern. Der Musikhistoriker Rochus von Liliencron hat eine ganze Reihe von Liedern zusammengetragen. Der oftmals hämische Tenor: Es lohnt sich nicht, eine Revolution anzufangen. So eindeutig der historische Geyer in dem damaligen Konflikt an der Seite der Bauern stand, so umkämpft war, wer ihn in späteren Jahren für sich in Anspruch nehmen konnte. Das hat mit Deutungskämpfen um den Bauernkrieg selbst zu tun. Mitte des 19. Jahrhunderts erklärt Friedrich Engels den Bauernkrieg zum Klassenkampf. Florian Geyer ist für ihn ein Vorläufer des proletarischen Revolutionärs. Im 20. Jahrhundert vereinnahmen die Nazis den Bauernführer. Was die mit einem solchen Revolutionär wollen? Der Bauernstand ist nach völkischer Lehre eine der Urkräfte des deutschen Volkes. Da lässt sich ein solcher Held gut einbauen. Nach dem 2. Welt- krieg stört es weder die Linken in der Bundesrepublik noch in der DDR, dass die Nazis solche Geyer-Fans gewesen waren. In der DDR sieht man in ihm den Kämpfer gegen den Feudalismus, benennt Straßen, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) und ein Grenzregiment nach ihm. Wir sind des Geyers schwarzer Haufen steht in Liederbüchern der Nationalen Volksarmee. Und in der Bundesrepublik? Man sieht Geyer — etwas gemäßigter — zunächst einmal als sozialen Reformer. Der Song wird an vielen Lagerfeuern gesungen. Und so konnte es passieren, dass ausgerechnet der Volkssänger der bundesrepublikanischen Konservativen einen Song über einen Sozialreformer ins Repertoire nahm: Eine der bekanntesten Aufnahmen von Geyers schwarzem Haufen stammt von Heino.

Zündschnüre-Song 
Franz Josef Degenhardt 

»Und als von tausend Jahren / nur elf vergangen waren / im letzten Jahr vom Krieg, // da lag die Welt in Scherben, / und Deutsch- land lag im Sterben / und schrie noch Heil und Sieg.« 1944, irgendwo im Ruhrgebiet, es ist kaum noch zu übersehen, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Zwischen abgestellten Zü- gen, Schrebergärten und Kaninchenställen leben Fänä und seine Freunde. Dreizehn, vierzehn Jahre sind sie alt, wachsen ohne Väter auf, denn die sind entweder im Krieg, gefallen oder im KZ ermordet worden. Sie selbst sind noch zu jung für die Flak. Immerhin müssen sie nicht zur Schule. Die ist zerbombt. Franz Josef Degenhardt kennt man vor allem als Liedermacher, sein Song Spiel nicht mit den Schmuddelkindern fehlt in keiner Folk-Liedersammlung. 1973 veröffentlicht Degenhardt, der zudem als linker Rechtsanwalt arbeitet, seinen ersten Roman, Zündschnüre. Jedes Kapitel ist einem anderen Kind gewidmet, das sich irgendwie durchschlagen und eine Haltung entwickeln muss. Fänä und seine Kumpanen (und eine Kumpanin) stehlen einen Eisenbahnwaggon mit 600 Litern Wein, transportieren Sprengstoff, überbringen Nachrichten, schmuggeln verfolgte Menschen aus der Stadt, brechen in einen Lagerraum der Wehrmacht ein und erbeuten dort kartonweise Kondome — nichts Essbares. »Ein Buch, das man mit der gleichen Spannung und dem gleichen Vergnügen liest wie Mark Twains Geschichten von Huck Finn und Tom Sawyer«, schrieb damals die ZEIT. Die Jugendlichen, die gar nichts anderes kennen als den Krieg, entwickeln eine Art solidarischer Resilienz. Und sie stehen für eine Hoffnung, dass diejenigen, die lange scheinbar vergeblich gekämpft haben, doch ihre Spuren hinterlassen. Den menschlichen Blick und die Hoffnung hat Degenhardt, der wie seine Protagonisten im Ruhrgebiet auf- wuchs, in den Zündschnüre-Song fließen lassen: »Und wie sie kämpften, litten / und lachten, liebten, stritten / in Solidarität, // das wird man dann noch lesen, / wenn das, was sonst gewesen, / ein Mensch nicht mehr versteht.«