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Martin Kaluzas Texte zu Bread and Roses & How many times

Jo Ambros, Dieter Fischer und Johann Polzer spielen Revolutionslieder.
Die Texte stammen von Martin Kaluza.

A Change is Gonna Come 
Sam Cooke

„I was born by the river in a little tent / Oh, and just like the river I’ve been a-runnin’ ever since.“ 1963 ist Sam Cooke einer der erfolgreichsten Sänger seiner Generation. Seine Hits „Cupid“, „Only Sixteen“ oder „What a Wonderful World“, vorgetragen mit butterweicher Stimme, erreichen Millionen Fans, schwarze wie weiße. Doch noch immer haben schwarze Amerikaner nicht die gleichen Rechte wie weiße – nicht einmal ein Star wie Sam Cooke darf in allen Hotels übernachten und in allen Restaurants essen. Während einer Tournee hört er Bob Dylans Song „Blowin’ in the Wind“ zum ersten Mal. Ein Schlüsselerlebnis: Cooke nimmt den Song, in dem der weiße, junge Folksänger gegen Diskriminierung singt, in sein Repertoire auf und spielt ihn regelmäßig. Und er traut sich nun selbst, einen politischen Song zu schreiben: darüber, wie schwierig, wie schmerzhaft und wie gefährlich es ist, als Schwarzer in den USA zu leben. Im Refrain singt Cooke von Hoffnung – und der traurige, kurz vor der Resignation stehende Ton lässt die Zuhörer ahnen, wie sehr sich Cook zu seinem Opti- mismus aufraffen muss: „Es geht schon lange so, aber die Zeiten werden sich ändern.“ Die Melodie für „A Change is Gonna Come“ sei ihm im Traum zugefallen, sagt Cooke einmal, Ende 1963 – nur ein paar Monate nach Martin Luther Kings „I Have a Dream“-Rede. Cooke nimmt seinen eigenen Song nicht ins Repertoir auf, er scheint ihm zu finster für fröhliche Club-Auftritte. Nur einmal spielt er ihn vor Publikum, nämlich am 7. Februar 1964 in der Johnny Carson Show.
Zwei Tage später treten die Beatles erstmals in der Ed Sullivan-Show auf – die Sensation überstrahlt Cookes Auftritt. Als Single erscheint der Song im Dezember, wenige Tage nach Sam Cookes Tod, er wurde in einem Motel von der Geschäftsführerin erschossen. Er erlebt nicht mehr, welche Bedeutung sein Song für die Bürgerrechtsbewegung erlangt. 
Otis Redding nimmt eine Fassung auf, ebenso Aretha Franklin. Als 2008 Barack Obama als erster schwarzer Präsident der USA vereidigt wird, trägt die Soulsängerin Bettye LaVette „A Change is Gonna Come“ im Duett mit Jon Bon Jovi vor. 

Ah! Ça ira 
Ladré / Bécourt 

Am 14. Juli 1790, dem ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, feiert Frankreich auf dem Marsfeld in Paris die Revolution. Immer wieder erklingt das Kampflied „Ah! Ça ira“. Der schwungvolle Marsch rechnet mit der Aristokratie ab – je nach Fassung mal mehr, mal weniger explizit blut- rünstig. Das Lied, geschrieben von einem Straßensänger namens Ladré, erklingt schon seit Monaten in Gassen und Wirtshäusern, Aristokraten wird es auf der Straße nach- gesungen. Die Refrainzeile „Ça ira!“ haben sich die Revo- lutionäre bei Benjamin Franklin abgeschaut, der mit diesen Worten (er sagte sie auf Französisch) die amerikanische Unabhängigkeit meinte: „Das wird klappen!“ Der Song ist das „Yes, we can!“ oder das „Wir schaffen das!“ seiner Zeit. 1954 singt Edith Piaf den Song mit solcher Dringlichkeit, dass ihr sogar der flotte Rhythmus der Titelzeile noch zu langsam ist. 

Blowin’ in the Wind 
Bob Dylan 

Robert Zimmermann, ein Junge aus dem kargen Norden der USA, geht mit 21 Jahren nach New York und mischt in den Bars und Musikkneipen die Folk-Szene auf. Unter seinem Künstlernamen Bob Dylan spielt er die Songs seines Vorbilds Woody Guthie, schreibt auch erste eigene: Politi- sche, engagierte Lieder, die häufig um das Schicksal einer bestimmten Person herum gestrickt sind – ganz in der Folk- Tradition, etwa “The Ballad of Donald White” oder “The Death of Emmett Till”. 
An einem der Abende in einer Folk-Kneipe schreibt er prak- tisch in einem Rutsch einen neuen Text zur Melodie eines traditionellen Gospels („No More Auction Block“), aber diesmal geht es nicht um eine einzelne Person oder Bege- benheit, sondern er zoomt zurück und betrachtet das große Ganze. Und er stellt große Fragen: 
Wie oft müssen die Kanonenkugeln noch fliegen, bevor sie für immer abgeschafft sind? Wie lange halten Menschen es aus zu existieren, ohne frei zu sein? Wie oft kann ein Mensch einfach wegsehen? „Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind.“ Die Friedensbewegung singt den Song genauso wie die Bürgerrechtsbewegung. „Blowin’ in the Wind“ wird zu einem der bekanntesten Pro- testsongs aller Zeiten. 

Bread and Roses 
James Oppenheim / Caroline Kohlsaat 

„Die Arbeiterin braucht Brot, aber sie braucht auch Rosen!“ 1911 bringt die Frauenrechtlerin und Gewerkschaf- terin Rose Schneiderman in einer Streikrede auf den Punkt, woran es Textilarbeiterinnen in New York mangelte: Brot – das steht für gerechten Lohn, erträgliche Arbeitszeiten und Sicherheit am Arbeitsplatz. Und Rosen – damit ist ein menschenwürdiges Leben außerhalb der Betriebe gemeint. Solidarität in den Gewerkschaften müssen sich die meist frisch eingewanderten Arbeiterinnen, die zum Teil wenig Englisch sprechen und als Lohndrückerinnen abgestempelt werden, erst erkämpfen. 
1912 steht Schneidermans Zitat auf den Plakaten des Streiks von 20.000 Textilarbeiterinnen in Lawrence (Massachusetts), der als „Bread and Roses Strike“ in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingeht. James Oppenheim schreibt um den Slogan herum ein Gedicht, 1917 komponiert Caroline Kohlsaat die Musik. Manchmal wird Martha Coleman als Komponistin genannt – möglicherweise ist das dieselbe Person. Nach dem 2. Weltkrieg vertonen erst Mimi Fariña (Joan Baez’ Schwester) und später Folksänger John Denver den Song erneut. Das Lied steht für zwei politische Bewegungen: Es wird in der Frauen und in der internatio- nalen Gewerkschaftsbewegung gesungen. 

Canto nocturno en las trincheras 
José Miguel Ripoll / Leopoldo Cardona 

1937 reist Ernst Busch nach Spanien, um im Bürgerkrieg für die Internationalen Brigaden zu singen, die auf der Seite der Republik gegen den von Franco angeführten Staatsstreich kämpfen. Er lernt das Lied „Canto nocturno en las trincheras“ von José Miguel Ripoll und Leopoldo Cardona kennen – übersetzt heißt das „Nächtlicher Gesang in den Schützengräben“. In den Schützengräben ist es nachts keineswegs ruhig. Wenn die Waffen schweigen, rufen Kämpfer beider Seiten ihren Gegnern lautstark Parolen zu. 
Beide Seiten haben ihre Lieder. Während die Faschisten gern über den Morgen, die Sonne und die Katholischen Könige singen, bevorzugen die Republikaner Volkslieder, die von Schlachten berichten. Im „nächtlichen Gesang“ geht es kämpferisch zu: „Brota sangre del obrero / para un futuro mejor“, „Es sprudelt das Blut des Arbeiters / für eine bessere Zukunft“. Ein Lied, dafür gemacht, die ermüdende Kampfmoral zu erneuern. 
Ernst Busch gibt in Spanien ein Liederbuch für die Internationalen Brigaden heraus. „Canto nocturno en la trincheras“ übersetzt er ins Deutsche. Sein Titel: „Hinein ins Gebrüll“. 

Danser Encore 
Kaddour Hadadi

2.000 Menschen singen und tanzen auf der Straße des kleinen Örtchens Vans in der Ardèche. Eine Facebook-Gruppe hat dazu aufgerufen. Im Prinzip eine fröhliche Straßenszene – wäre es nicht der 20. März 2021. Frankreich befindet sich wegen des Corona-Virus im Lockdown, und auf der Straße hält sich kaum jemand an die vorgeschriebenen Abstände. Die ebenfalls vorgeschriebene Maske trägt kaum jemand. Der Bürgermeister ist alarmiert. Inmitten der Menschen- gruppe stehen die Musiker der Band „HK et les Saltimbanks“. Ihr Song „Danser Encore“ war der Anlass für die Versammlung: „Freunde kommt, wir wollen wieder tanzen gehen / Leben ist doch nur als Ganzes schön“. Aus den Zeilen spricht die tiefe Sehnsucht nach Livemusik nach Tanz, nach Begegnung und überhaupt nach kulturellen Veranstaltungen. Kurzum: Nach allem, was während der Corona-Pandemie nicht möglich ist. Der Songwriter Kaddour Hadadi kritisiert in dem Text den französischen Präsidenten Macron. Er beschreibt ihn als Herrscher, die Rhetorik erinnert an die Gelbwesten-Proteste. Die Idee verselbstständigt sich. Überall in Frankreich – und bald auch in anderen Ländern – versammeln sich im Früh- jahr 2021 Flashmobs, um gemeinsam das Lied zu singen und dazu zu tanzen. Das Lied wird auch von Gruppen aufgegriffen, die jegliche Corona-Maßnahmen generell ablehnen, etwa von Corona-Leugnern in Deutschland. Kaddour Hadadi, im nordfranzösischen Raboux als Sohn algerischer Einwanderer geboren, ist das nicht recht. 
„Die Leute kennen mich, ich bin politisch links. Das Lied ist über mich hinausgewachsen“, sagt er einer Reporterin des Deutschlandfunks. „Das Lied gehört allen, aber ganz klar nur unter drei Bedingungen: Erstens, es gehört dir, wenn du nicht rassistisch und ausländerfeindlich bist. Zweitens, es gehört dir, wenn du brüderlich, solidarisch und gewaltfrei bist. Und drittens, es darf nicht politisch instrumentalisiert werden.“ 

Eh Fi Amal 
Fairouz / Ziad Rahbani 

Die Sängerin Fairouz ist im Libanon eine Institution. Generationen wuchsen mit ihrer Musik auf, die vom Geist der Offenheit durchweht wird. Ein Star ist die stets geheimnis- voll unbewegt auftretende Diva in der ganzen arabischen Welt seit den späten 1950er Jahren. 
Während des libanesischen Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 dauert, bleibt sie bewusst neutral. Sie tritt nur im Ausland auf, wohnt jedoch weiter im Libanon. Ihre Musik versteht sie als ihr politisches Engagement – für den Frieden, für Verständigung und Hoffnung. 
Den Song „Eh Fi Amal“ („Doch, es gibt Hoffnung“) nimmt Fairouz 2010 auf. Er handelt von einer erzwungenen Trennung zweier Liebender und der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Im Nachbarland Syrien laufen Fairouz’ Songs zwar in Assads Staatsmedien. Doch oppositionelle Radiosender machen „Eh Fi Amal“ bald zum Slogan syrischer Pazifisten. 

El Quinto Regimiento 
Traditional, in der Fassung von Rolando Alarcón 

Am 17. Juli 1936 putscht das Militär gegen die Zweite Spa- nische Republik, der Bürgerkrieg beginnt. Am Tag darauf gründet die kommunistische Partei einen paramilitärischen Verband, 150.000 Mann stark, um Madrid zu verteidigen. Seine Gründung und Führungspersonal werden umgehend in einem Song verewigt: „El Quinto Regimiento“ – „Das fünfte Regiment.“ Die Melodie ist zusammengesetzt aus zwei Volksliedern. Die Strophen stammen aus „El Vito“, der Refrain aus „Anda, jaleo“. Auf einer der bekanntesten Aufnahmen von „Anda, jaleo“ ist übrigens der Dichter Federico García Lorca zu hören, 1931 begleitete er die Sängerin La Argentinita am Klavier. 
Im September 1939, ein halbes Jahr nach Ende des Bürgerkriegs, legt der französische Frachter „Winnepeg“ mit 2200 spanischen Flüchtlingen an Bord in der chilenischen Hafenstadt Valparaiso an. Der Dichter und Konsul Pablo Neruda hatte die Fahrt des französischen Frachters in Paris orga- nisiert. 
Als der chilenische Liedermacher Rolando Alarcón dreißig Jahre später ein ganzes Album über den Spanischen Bürgerkrieg aufnimmt – darunter auch „El Quinto Regimiento“ – sind die Passagiere der „Winnipeg“ und die Lieder, die sie mitbrachten, längst in Südamerika heimisch geworden. 

Foggy Dew 
Charles O’Neill / Traditional 

Am Ostermontag 1916 besetzen irische Republikaner wichtige Gebäude in Dublin, um die Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien zu erzwingen. Der Aufstand scheitert, die Anführer werden hingerichtet. 
Als drei Jahre später erstmals das Irische Parlament (Dáil Éireann) in Dublin tagt, nimmt auch der junge Priester Charles O’Neill aus dem County Antrim an der Sitzung teil. Tief beeindruckt geht O’Neill nach Hause und schreibt ein Gedicht für die Männer, die im Kampf für die Freiheit ihr Leben verloren haben. Und er spricht die irischen Soldaten an, die zur Zeit des Osteraufstandes im Ersten Weltkrieg in fernen Ländern für das britische Empire kämpfen: Es sei besser, stattdessen unter irischem Himmel zu sterben. O’Neill veröffentlicht den Song zunächst unter Pseudonym. Die Melodie ist bekannt: Sie stammt von einer Liebes- ballade, dem irischen Volkslied „The Moorlough Shore“. 1922 erlangt die Republik Irland ihre Unabhängigkeit – allerdings um den Preis der Teilung: Nordirland bleibt Teil Großbritanniens. 

Give Peace a Chance
John Lennon 

1967, lange bevor der Ausdruck „Bedroom Production“ sich in der Musikwelt etabliert, nehmen John Lennon und Yoko Ono einen Song gewissermaßen im Bett auf. Während ihrer Flitterwochen laden der Sänger und die Konzeptkünstlerin zu „Sleep ins“, bei denen sie sich im Bett filmen und interviewen lassen. Als Lennon während einer solchen Veranstaltung im Queen Elizabeth Hotel in Montreal von einem Reporter nach dem Sinn dieser Aktionen gefragt wird, antwortet er: „Einfach dem Frieden eine Chance geben!“ Er wiederholt den Satz. Und dann noch einmal und immer öfter. Für das nächste Sleep in bestellt er ein Tonbandgerät und Mikrofone und lädt noch mehr Leute ein: den Dichter Allen Ginsberg etwa, den Psychiater und LSD-Aktivisten Timothy Leary, die Sängerin Petula Clark und den Gitarristen Tommy Smothers. Vor laufenden Kameras nimmt er einen Song auf, der so eingängig ist, dass jeder den Refrain sofort mitsingen kann: „All we are saying is give peace a chance!“ 

Hasta siempre, comandante 
Carlos Puebla 

Im April 1965 verlässt Ernesto „Ché“ Guevara Kuba, um im Kongo eine Revolution anzuzetteln. Am 3. Oktober verliest Fidel Castro, Revolutionär und kubanischer Staatschef, einen Abschiedsbrief seines ehemaligen Mitstreiters. Liedermacher Carlos Puebla hört die Rede Castros und kann die ganze Nacht nicht schlafen. In einem Rutsch komponiert er eine Hommage an den Guerrillero. Der Titel „Hasta siempre, comandante“ („Bis in die Ewigkeit, Kommandant!“) ist an- gelehnt an Guevaras Motto „Hasta la victoria, siempre!“ („Immer bis zum Sieg!“). 
Guevaras Revolutionsversuche im Kongo und später in Bolivien scheitern, 1967 wird er von bolivianischen Militärs ermordet. Nach seinem Tod wird Guevara zur Pop-Ikone verklärt, das Lied zur vielfach nachgespielten international bekannten Hymne. Wolf Biermann schreibt einen deutschen Text und singt „Comandante Ché Guevara“ 1976 auf dem Konzert in Köln, unmittelbar vor seiner Ausbürgerung. In Kuba ist der Song bis heute Teil der Revolutionsfolklore. 

Internationale 
Eugène Pottier / Pierre Degeyter 

Mitte Juni 1888 setzt sich Pierre Degeyter mit seinem Akkordeon hin, um einen Text zu vertonen. Ein Arbeiterlied soll es werden, und der Autor Eugène Pottier hatte ganz offensichtlich die Marseillaise im Kopf gehabt, als er den Text schrieb, denn die Versmaße gleichen sich auffällig. Bestellt ist ein Stück mit „lebendigem und mitreißendem Rhythmus“. Von einem Gewerkschafterchor wird es bei einer Versammlung der Zeitungsverkäufer in Lille am 23. Juli uraufgeführt. Die Erstauflage der Partitur erscheint in 6.000 heimlich gedruckten Exemplaren. Titel: „L’Internationale“. 1910 erklärt der Internationale Kongress von Kopenhagen es zum Lied aller Arbeiter, und 1919 erklärt Lenin die „Inter- nationale“ zur Nationalhymne der Sowjetunion. 1928, vierzig Jahre nach seiner Entstehung, dirigiert Pierre Degeyter persönlich den Chor auf dem VI. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau, mit Tränen in den Augen. 

Die Moorsoldaten
Johann Esser, Wolfgang Langhoff / Rudi Goguel 

Am 27. August 1933 führen Gefangene im Konzentrationslager Börgermoor im Emsland eine regelrechte Revue auf. Die Häftlinge müssen Moore trockenlegen und Torf stechen, viele überleben die Strapazen nicht. Einer der Insassen, Schauspieler Wolfgang Langhoff, überzeugt die Offiziere, ein wenig Abwechslung zu erlauben. Langhoff ist Kommunist und Antifaschist, und hier führt er nun als Direktor durch die Show des „Zirkus Konzentrazani“: Clowns, ein Ballett der dicksten Häftlinge, und zum Abschluss erklingt erstmals ein Lied, das Johann Esser, Wolfgang Langhoff und Rudi Goguel frisch geschrieben haben: „Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor“. Von dort zieht es um die Welt: Häftlinge, die verlegt wurden, singen es in anderen Lagern. Ein Entlassener singt es in London Hanns Eisler vor, der eine Klavierfassung schreibt und sie mit in die USA nimmt. Ernst Busch und Paul Robeson singen es in Spanien, um den Kampf gegen Diktator Franco zu unterstützen, Robeson nimmt 1942 eine englische Fassung auf. Aus den „Moorsoldaten“ werden „The Peat-Bog Soldiers“, „Los Soldados del Pantano“ und „Le Chant des Marais“. Langhoff, der das Lied initiiert hatte, wird 1946 Intendant des Deutschen Theaters in Ost-Berlin. 

Strange Fruit 
Abel Meeropol 

Es muss der traurigste aller Jazzsongs überhaupt sein. Abel Meeropol, damals auch bekannt unter seinem Pseudonym Lewis Allen, hatte eine Hymne gegen Lynchjustiz in den Südstaaten geschrieben und bot ihn der Sängerin Billie Holiday an. Sie hätte ihn gern bei Columbia Records aufgenommen, doch dort wurde der Song abgelehnt. 1939 nimmt sie ihn schließlich beim Label Commodore auf, zusammen mit drei weiteren Songs, und der Produzent sagt später über die Aufnahmen, er glaube, das sei die erste wirklich moderne Blues-Session gewesen. Die Band, mit der sie den Song ein- spielt, begleitet sie in dieser Zeit auch bei Auftritten im New Yorker Jazzclub „Café Society“. Von dessen Bühne aus er- obert der düstere Song die Welt. „Strange Fruit“ beschwört eine ländliche Südstaatenidylle, in der aber die grausamsten Verbrechen stattfinden. Zwischen 1889 und 1940 wurden in den USA 3833 Menschen gelyncht. 90 Prozent dieser Morde fanden in den Südstaaten statt, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner. Die seltsame Frucht, die dem Songs den Titel gibt, ist der Körper eines Schwarzen, der leblos an einem Baum hängt. 

We Shall Overcome 
Traditional 

Anfang des 20. Jahrhunderts singen amerikanische Berg- arbeiter während eines Streiks „We Will Overcome“. 1945 singen ihn Tabakarbeiterinnen in South Carolina, ebenfalls als Streiklied. Seit 1959 schließlich steht „We Shall Over- come“ vor allem für die amerikanische Bürgerrechtsbewe- gung, die, angeführt von Martin Luther King, friedlich für die Aufhebung der gesetzlich festgeschriebenen „Rassen- trennung“ kämpft. Pete Seeger und Joan Baez machen den Song in der Popmusik bekannt. Aber wer hat das Lied ge- schrieben? Meist wird die Hymne „I‘ll Overcome Someday“ des Methodistenpredigers und Gospelkomponisten Charles Albert Tindley als Vorbild genannt. 2012 legte Musikpro- duzent Isaias Gamboa nahe, der Protestsong gehe auf die Hymne „If My Jesus Wills“ von Louise Shropshire zurück, die später mit Martin Luther King befreundet war. Sicher ist: Einer der bekanntesten Protestsongs überhaupt hat seinen Ursprung im Gospel – und er hat sich, bevor die ganze Welt ihn kennen lernte, mehrfach gewandelt. 

Where Have All the Flowers Gone? 
Pete Seeger 

Um 1950 herum stolpert der US-amerikanische Folksänger Pete Seeger in Michail Scholochows Roman „Der stille Don“ über eine ukrainisches Volkslied. Die Handlung des Romans spielt in der Zeit der Oktoberrevolution. In einer Passage reiten Donkosaken fort, um sich der Armee des Zaren an- zuschließen. Sie singen: „Wo sind die Blumen? Mädchen haben sie gepflückt. Wo sind die Mädchen? Sie alle haben geheiratet. Wo sind die Männer? Sie sind alle in der Armee. Galopp, Galopp, Galopp!“ 
Seeger schreibt die Zeilen in sein Notizbuch. Fünf Jahre später trifft ihn beim Dösen im Flugzeug die Inspiration: Die Worte „long time passing“ würden sich doch gut singen lassen – im Deutschen werden sie als „Wo sind sie geblieben?“ übersetzt. Aus den alten Notizen und der neuen Eingebung macht er einfach einen neuen Song, ergänzt um die pädagogische Zeile: „When will they ever learn?“ Seeger veröffentlicht das Stück 1955 im Magazin „Sing out!“ „Ich dachte, ich hätte die Melodie selbst geschrieben,“ erinnert er sich einmal. „Bis mir ein Jahr später ein Freund schrieb und mich darauf aufmerksam machte, dass sie sehr der Melodie eines Holzfällersongs aus Adirondacks ähnelte, den ich einmal aufgenommen hatte.“ Ein irisches Lied: „Johnson says he’ll unload more hay / Says he’ll unload ten times a day“. 1960 schließlich schreibt Seegers Freund und Folksänger Joe Hickerson noch zwei weitere Strophen, und erst mit ihnen schließt sich der Kreis des Textes: „Sag, wo die Soldaten sind / über Gräbern weht der Wind“ und „Sag mir, wo die Gräber sind / Blumen wehen im Sommerwind“. „Where Have All the Flowers Gone“ erscheint mitten im kalten Krieg, auf dem ersten Höhepunkt des atomaren Wettrüstens. Radio und Fernsehen tragen wenig zu seiner Verbreitung bei. Noch bis weit in die 1970er Jahre wird Pete Seeger vom US-Rundfunk boykottiert. Die Ausnahme bleibt ein Fernsehauftritt 1967 in der Comedy-Show der Smothers-Brüder (einer von ihnen ist später auf der Originalaufnahme von „Give Peace a Chance“ zu hören). Seegers nutzt die Gelegenheit, einen Song gegen den Vietnam-Krieg vorzutragen – was ihm nur weitere Jahre der TV-Verbannung einbringt. Der Siegeszug des Blumen- Liedes ist trotzdem nicht zu stoppen. Joan Baez nimmt eine Version auf. Die von Peter, Paul & Mary wird ebenfalls zum Hit. „Das Kingston-Trio sang das [Lied] auch, und Marlene Dietrich übernahm es von denen“, sagte Seeger in einem Interview mit dem Neuen Deutschland. „Max Colpet machte eine deutschsprachige Version, die sich besser singen lässt als meine englische. Es klingt im Deutschen wirklich noch beeindruckender: ‚Sag mir wo die Blumen sind.’“