
Heute erscheint die zweite Single unseres neuen Albums „Trotz alledem“:
Ein lidlin von den richstetten (Lied der Raubritter)
Martin Kaluza schreibt über das Lied:
Das Unglück wartet an einem Frühlingsmorgen. Ein Zug Ulmer Händler hat sich gerade im Vilstal auf den Weg gemacht. Die Händler sind auf der Rückreise von der Frankfurter Messe, der Hauptmann Georg Rennwart begleitet sie. Reisen sind im Mittelalter keine ungefährliche Sache, vor allem wenn man so wertvolle Ladung dabei hat. Rund 250 Kilometer müssen die Händler zurücklegen, das sind zehn Tage, wenn man mit Lasttieren und Packwagen unterwegs ist. Sie haben schon den größten Teil der Strecke hinter sich, als sie bei Süßen in einen Hinterhalt geraten. Die Räuber nehmen fünfzehn Gefangene, erbeuten vierzig Pferde und Waren im Wert von fünftausend Gulden. Von dem Überfall berichtet das Lidlin von den richstetten. In der ersten Strophe wird der noch kühle Frühlingsmorgen beschrieben, samt Vogelgesang. Geradezu spöttisch entwickelt sich die Geschichte, wie die zunächst ungläubigen Ulmer der Situation gewahr werden. Anführer des Überfalls sind die Ritter Heinrich Schilling und Sigfried von Zülnhard, damals bekannt als Städtefeinde und Wegelagerer. »Wer fliehen kund / zur selben Stund / von seinem Bund / der blieb gesund.« Historiker haben die Angaben mit der Stadtchronik von Ulm verglichen und können nun ziemlich genau bestimmen: Der Überfall fand im Jahr 1440 oder 1441 statt. Im Lied werden die Kaufleute als Bauern bezeichnet. Auch wenn sie aus Ulm kommen und gar keine Äcker bestellen — aus Sicht der Ritter sind Städter »eingemauerte Bauern«. Die Räuber im Lidlin stammen aus dem niederen Adel. Seit die Landesfürsten zunehmend professionelle Armeen aufstellen, geht es mit dem Adel abwärts, Ritter werden schlicht nicht mehr gebraucht. Nun versuchen sie, sich irgendwie über Wasser zu halten — oft zulasten der Bauern. Die Städte haben noch nicht die Macht, die Sicherheit der Wege zu gewährleisten und planen bereits, sich in Bünden zusammenzuschließen. Das Lidlin ist (anders als Geyers schwarzer Haufen) tatsächlich in der damaligen Zeit entstanden, unmittelbar nach dem Überfall. Es zählt zu den seltenen Beschreibungen aus der Zeit, die einen Blick in die Innenwelt des Raubrittertums erlauben. Den Begriff der Raubritter übrigens verwendet damals noch niemand. Er wird erst 300 Jahre später gebräuchlich, gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die letzte Strophe lässt ahnen, dass das Lidlin ein Trinklied war. Mit dem Geld der Ulmer lässt man es so richtig krachen: Das Liedlein ist nun angestimmt, in Neuhaus wird mit dem Ulmer Geld gespielt, da lebt man süß, das Leben ist kein Graus und groß ist der Krug! Die Überlieferung des Lidlins verdanken wir Rochus von Liliencron. Der 1820 in Plön geborene Musikhistoriker hat für Volkslieder Ähnliches geleistet wie die Brüder Grimm für Märchen. Unzählige Handschriften hat er aufgetan und ausgewertet und damit die deutsche Volksliederforschung begründet. Liliencron hat auch eine Antwort der Ulmer auf den Überfall gefunden. Ein suberlich litlin von den rütern ist eine gesungene Klage in 25 Strophen.
Einige davon sind vermutlich — wie es bei Volksliedern oft vorkommt — später hinzugedichtet worden. Warum sollte man auch eine beliebte Geschichte nicht etwas ausschmücken und den Genuss der Darbietung verlängern? Die Paarung aus Lied und Gegenlied jedenfalls ist selten, zumal unter den ohnehin nur spärlichen Überlieferungen aus der Raubritterzeit. Die ursprüngliche Melodie des Lidlins ist nicht erhalten. Die Melodie, die auf dieser Aufnahme zu hören ist, stammt aus einem Lied des damals populären Sängers, Dichters und Diplomaten Oswald von Wolkenstein, der selbst Ritter war und 1445 starb.
Ein lidlin von den richstetten (Lied der Raubritter)
Text: unbekannt
Musik: Oswald von Wolkenstein (um 1440)